Exemplarisch Kommunizierende
Kunstforum International, Bd. 191
Dieter Buchhart: In eurem 1991 erschienen Buch „Schreiben über Kunst“ kommt ihr zu dem Schluss, dass neben der künstlerischen Produktion ein autonomes Produktionsfeld, das Schreiben über Kunst, existiert. Dazu habt Ihr Sätze aus Texten von KritikerInnen zu Euren Werken herausgelöst, die zum Teil völlig losgelöst vom besprochenen Kunstwerk die Weltanschauung der AutorInnen wiedergaben und als eine eigene literarische Sparte verstanden werden können. In dem Folgeprojekt „Sprechen über Kunst“ habt ihr mittels eingeladener KunsttheoretikerInnen euch der Frage angenähert, inwieweit der Text das Bild verdrängt, den Stellenwert von Kunst einnimmt. Wie steht ihr heute zum autonomen Produktionsfeld der Kritikersprache?
Dellbrügge & de Moll: „Der Künstler als Leitfigur hat ausgespielt.“, titelte Wolfgang Max Faust damals. Die Kunstkritik bescheinigte der Kunst ihre gesellschaftliche Irrelevanz. Es bestand ein breiter Konsens, dass Kunst sich erschöpft habe und zu große Anpassungsleistungen an den Markt erbringe. Jérôme Sans führte den Diskurs vom Verschwinden der Kunst ein („Strategies of disapearance“). Das Wesen der Kunst wurde in ihrer Abwesenheit geortet und die Figur des Kurators wurde unabdingbar, um die ephemerer werdenen Werke verbal sichtbar zu machen. Unsere Arbeiten aus dieser Zeit reagierten auf diese Situation. Die „Video-Theorie“-Bänder von 1992/93, die gerade in der Ausstellung „40jahrevideokunst.de“ in der K21 Düsseldorf zu sehen waren, thematisieren den geschlossenen Kreislauf von Werk- und Diskursproduktion und bedienen sich der Kritik als Ressource. Die Zeitschrift „below papers“, die wir zusammen mit Thomas Wulffen 1993/94 in Kunst-Werke Berlin produzierten, waren eine Fusion künstlerischer Praxis und theoretischer Produktion. Einer Aikodo-Technik folgend spiegelten wir den Pessimismus der Kunstkritik, die wir als Herausforderung sahen, zurück und machten ihn zum Material. Heute sieht die Sache anders aus. Wir sprechen nicht von einer Hegemonie der Kunstkritik. Kunstkritik ist ebenso wenig autonom wie Kunstproduktion. Beide sind Teil desselben Systems und interdependent.
Dieter Buchhart: Die hier mitschwingende Öffnung des Kunstbegriffes hin zu einem offenen Handlungsfeld impliziert jedoch nicht nur die Forderung nach einer interdisziplinären Herangehensweise, sondern thematisiert auch die heftig umstrittene Kommentarbedürftigkeit zeitgenössischer Kunstpraxis. Vor der Annahme dieser reklamierten Bedürftigkeit stellt sich die Frage wer diese Kommentare formulieren sollte? Sind es die KünstlerInnen, die KuratorInnen, die KunstwissenschaftlerInnen oder die KunstkritikerInnen?
Dellbrügge & de Moll: Kunst ist erklärungsbedürftig seit Artefakte identisch aussehen, aber etwas Unterschiedliches bedeuten können. Arthur Danto hat in „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ ausgeführt, dass der Kontext eine konstituierende Rolle spielt. Was häufig als Verlust (des unmittelbaren Erlebens) bewertet wird, sehen wir als Zugewinn (an Lesbarkeit, Wissenstransfer und intellektueller Stimulation). Beantwortest Du Die Frage nach der Rollenzuschreibung nicht in Deiner eigenen Person? Aktuell hast Du uns als Kurator zu der Ausstellung „Zerstörte Welten und die Rekonstruktion der Utopie“ im Kunstraum Dornbirn eingeladen, kennengelernt haben wir Dich als Künstler und nun führst Du mit uns ein Interview für Kunstforum. Du bist Kritiker, Kurator und Künstler in Personalunion, und damit stehst Du nicht allein: nimm John Miller mit „ACME“, Ariane Müller mit „starship“, Lise Nellemann mit „Sparwasser HQ“, Maurizio Cattelan als Kurator der Berlin Biennale oder Nikolaus Schafhausen, der als Künstler startete und nun als Biennale-Kurator nominiert wurde.
Dieter Buchhart: Welche Stellung nimmt das Kunstwerk ein, wenn es für seine Existenz seiner eigenen Reflexion bedarf?
Dellbrügge & de Moll: Da fällt uns natürlich Walter Grasskamp ein, der sinngemäß schrieb, ein Künstler, der ein Werk auf der Staffelei im Atelier für Kunst halte, sei genauso absurd, wie jemand, der eine Schallplatte ans Ohr halte, in der Meinung, es handle sich um Musik. Es braucht die Verstärkeranlage des Marktes, die Lautsprecherboxen der Galerien und Museen, die Kabel der Kunstkritik usw. Das Kunstwerk ist eine gesellschaftliche Vereinbarung und bedarf somit seiner eigenen Reflexion.
Dieter Buchhart: Können eure Werke als Entwürfe einer exemplarischen Kommunikation verstanden werden?
Dellbrügge & de Moll: Wir verstehen unsere Rolle als exemplarisch Kommunizierende. Was bedeutet das? Es heißt in erster Linie, dass wir nicht mehr bereit sind, die exemplarisch Leidenden zu spielen. Wir denken zwar, dass Kommunikation in der Lage ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das heisst aber nicht, wir hätten ein Patentrezept. Frei nach Luhmann ist Kommunikation eine komplizierte Sache. Sie gelingt erst, wenn die Botschaft Denken und Handeln des Adressaten verändert. Einem Gelingen steht ein Haufen Unwahrscheinlichkeiten im Weg: 1. Muss jemand da sein und 2. zuhören. In anderen Situationen haben Leute was anderes zu tun. 3. Jemand muss verstehen und muss 4. bereit sein, das Verstandene umzusetzen. Wir legen verschiedene Versuchsanordnungen an und beziehen uns selber in die Experimente ein. Exemplarisch Kommunizierende bedeutet, wir agieren als Versuchskaninchen, um zu testen, was aus dem Feld der Kunst heraus veränderbar ist.
Dieter Buchhart: Was bedeuten Begriffe wie das Modell, der Prototyp oder der Entwurf in eurer Kunstpraxis?
Dellbrügge & de Moll: Künstler haben einen ausgeprägten Möglichkeitssinn, d.h. sie gleichen den Status Quo mit dem ab, was sein könnte. Gleichzeitig haben sie kaum Zugriffsmöglichkeiten auf gesellschaftsrelevante Bereiche wie Architektur, Städtebau, Verkehr, Bildung, Ernährung, Bekleidung, Ökonomie und Organisation von Arbeit. Was bleibt, ist die Ebene des Kommentars, d.h. Ideen, Pattern, Denkfiguren zu entwickeln und in Umlauf zu bringen. Menschen haben eine Affinität, Verhaltensmuster zu erkennen und zu reproduzieren, Modelle aufzugreifen, zu adaptieren, zu kopieren. Damit arbeiten wir.
Dieter Buchhart: Auf Werke wie „UFO-Landeplatz“ von 2000 oder „Dresscode. Farbcodierte Kleidung für den ländlichen Raum“ (2003/2006) bezogen, würdet ihr einem Prototyp welche Bedeutung zuschreiben?
Dellbrügge & de Moll: Der Ausstellungskontext bietet begrenzte Ressourcen. Das erlaubt die Vorstellung der Idee im Sinne eines Versuchsmodells, Entwurfsmusters oder Vorab-Exemplars, das zur Erprobung von Eigenschaften dient.
Dieter Buchhart: Ist „Prototyp“ in diesen Fällen metaphorisch oder tatsächlich als Musterstück einer umfangreicheren Produktion gedacht?
Dellbrügge & de Moll: Es ist durchaus eine Herausforderung, über den temporären Rahmen von Ausstellungen hinauszugehen und etwa die „Farbcodierte Kleidung für Museumspersonal“ in großem Maßstab umzusetzen. Ein Code wird umso wirksamer, je weiter er verbreitet ist und je mehr Gruppen sich darauf einigen, ihn zu benutzen. Stell Dir vor, Du betrittst ein Museum, das sein Personal mit der farbcodierten Kleidung ausgestattet hat. Du bist sofort im Bilde, dass es das Konzept von Sicherheit und Überwachung zugunsten eines Konzepts von Vermittlung und Interaktion ausgetauscht hat.
Dieter Buchhart: In euren Werken geht ihr nicht nur sehr präzise mit der Sprache sondern auch mit der Wahl der Produktionsmittel und der Farben um. Welche Bedeutung messt ihr der Farbe grün in „UFO-Landeplatz“ bei?
Dellbrügge & de Moll: Im urbanen Raum eine durchweg positive. Das genannte Projekt ist ein Weg, Grünflächen im Stadtraum zu installieren.
Dieter Buchhart: Wie habt ihr die Farbcodes für die Kleidung für den kulturellen (KünstlerInnen, Museumspersonal, etc.) und landwirtschaftlichen Raum entwickelt? Was waren die Parameter und welches Konzept verbirgt sich hinter dieser Farbwahl?
Dellbrügge & de Moll: Im düsteren Herbst 2003 wurden wir zu dem Symposium „Art and Sustainability in the Rural Space“ in der Nähe von Dresden eingeladen. Die Region litt unter den üblichenNachwende-Malaisen: Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Insolvenzen, Lebensmittelskandale, Neonazis. Investoren waren nicht in Sicht. Die Politik beackerte vielversprechendere Felder. Nur eine Handvoll Kunsthistorikerinnen und Stadtentwickler kämpfte noch darum, ein paar Euro für Kultur abzuschöpfen. Der Nachbarort setzte auf Sport. In Großenhain sollte Kunst heilen. Selten hatten wir uns so ratlos gefühlt. Kapital, um die zusammengebrochenen Betriebe wieder aufzubauen, fehlte uns. Sachverstand für Strukturreformen im ländlichen Raum und der notwendige Zugriff diese umzusetzen gingen uns ab. Schließlich begaben wir uns auf die Meta-Ebene und entwickelten ein Kommunikationswerkzeug: „Dresscode. Farbcodierte Kleidung für den ländlichen Raum“. Die farbcodierte Kleidung für den ländlichen Raum verbindet die Funktionalität robuster Arbeitskleidung mit der Kommunikation von Haltungen. Sieht aus wie Mode, sind aber Daten. Ein paar Stücke Stoff werden aneinander genäht und bedeuten etwas. Haltung und Verhalten der Träger sind Grundlage des Designs. Aus den Farben der Region extrahierten wir eine Farbpalette und wiesen ihren Tönen Bedeutungen zu. Der entstehende Farbcode gibt Aufschluss über die individuelle ökologische und ökonomische Position. So wird „Dresscode“ zum nonverbalen Kommunikationssystem.
Dieter Buchhart: Habt ihr euch mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Farbtheorien so wie der physiologischen und psychologischen Wirkung bestimmter Farben auseinandergesetzt?
Dellbrügge & de Moll: Mal abgesehen von unserem Akademie-Background – nein. Wir entwickeln mit den Farben eine kontextbezogene Semantik. Die Kleidung wird zum Medium, die Farben dienen dem Datentransfer.
Dieter Buchhart: Wie wichtig ist die Ausführung eurer Modelle und Prototypen?
Dellbrügge & de Moll: In einem Gespräch, das wir mit Michelangelo Pistoletto für die „Wild Cards“ geführt haben, sagte er uns: „If you want to achieve social transformation its not enough just to talk about it. Create the right setting for your idea. Show that it exists and develops. Otherwise people won‘t gain confidence. Combine research and application. Bring about real results.“ Es genügt nicht, eine Idee zu publizieren. Sie muss sich materialisieren, damit die Leute anfangen, daran zu glauben.
Dieter Buchhart: In „Hamburg Ersatz“ habt ihr den Weg vom virtuellen zum physischen Objekt gewählt. Versteht man die Kommunikation als Hauptträgerin eurer Kunst stellt sich die Frage wieso ihr diesen Schritt gewählt habt.
Dellbrügge & de Moll: Nun, zunächst war es der Transfer aus dem Stadtraum in den Datenraum. Im Rahmen von „weitergehen“, einem Projekt der Kulturbehörde Hamburg (1997), waren wir eingeladen, einen Beitrag für den öffentlichen Raum zu entwickeln. Die beteiligten Künstler/innen wurden als „Intendanten“ apostrophiert und eingeladen, sich Partner aus den Bereichen Medien, Stadtplanung und Hochschulen zu suchen und das Feld der Öffentlichkeit in weitestem Sinne zu bespielen. Was zunächst als großzügiger Handlungsspielraum angelegt war, wurde doch durch die Realitäten hart beschnitten. Die nutzbaren Grundstücke der Stadt beliefen sich auf Zwickel und Streifen, die Traufhöhe für Bauten war auf drei Meter begrenzt. Erst die Erfahrung, dass Künstlern nicht der Zugriff auf die Stadt erlaubt wird, veranlasste uns, ins Netz auszuweichen.
„Hamburg Ersatz“ ist wie einen Turm mit sieben Ebenen konzipiert, von denen jede einem Schwerpunkt gewidmet ist. Vom Haus als Zelle menschlichen Wohnens über die Stadt als komplexe Organisationsform bis zur Interaktion ihrer Bewohner. Gespräche mit Experten über das Funktionieren der Stadt, ein Auditorium mit urbanem Sound und ein Philosophenweg, auf dem über die Bedeutung des Turmes sinniert wird: den Elfenbeinturm und den babylonischen Turm. Oben angelangt erwartet einen der Ausblick ins All, die Aussicht auf Mondreisen, außerirdische Siedlungsformen und den Klang der Sphärenharmonien. Für die Ausstellung „Plug-In. Einheit und Mobilität“ (2001, Westfälisches Landesmuseum Münster) bauten wir einige Entwürfe als „Hamburg Ersatz Teile“, temporäre Anschauungsmodelle, um sie der computergestützten Version zur Seite zu stellen. Jeder Kontext bedarf seiner spezifischen Form.
Dieter Buchhart: In „Hamburg Ersatz“ setzt ihr euch wie auch in anderen Projekten mit Utopien als potentielle Ersatzmodelle auseinander. Was bedeutet Utopie für euch und wie seid ihr mit diesem Begriff in „Hamburg Ersatz“ umgegangen?
Dellbrügge & de Moll: Utopien entstehen aus der Unzufriedenheit mit dem Status Quo und nehmen vorausdenkend dessen Veränderung vorweg. Um sich für eine Veränderung entscheiden zu können, braucht man aber Alternativen. Einen Diskurs über Alternativen führen wir im „Hamburg Ersatz“ ein, angefangen von Revolutionsarchitekten des 15. und den Sozialreformern des 18. Jahrhunderts über Malevich und El Lissitzky und die Architekten der „Gläsernen Kette“ bis zu Le Corbusier, Archigramm und Entwürfen für das Leben im All. Wenn Utopien nicht mit der Perspektive auf ihre Realisierbarkeit verknüpft werden, bleiben sie Geschwätz.
Dieter Buchhart: Welche Bedeutung kommt in diesem Fall Buckminster Fuller zu, dessen Klettendom ihr ja tatsächlich mit Kletten im kleinen Maßstab gebaut habt?
Dellbrügge & de Moll: Buckminster Fuller lebte sein Leben als Experiment, indem er fragte, wie ein Einzelner ohne Macht und Mittel etwas bewirken kann. Wie Henry David Thoreau, Robert Owen oder Charles Fourier ist Fuller eine starke Einzelfigur, die dem vorherrschenden Denken der Gewinnmaximierung und Survival of the Fittest einen anderen Modus des gemeinsamen Überlebens entgegensetzte. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens war er ständig auf Achse, um seine Ideen zu verbreiten. Innerhalb eines Netzwerks können starke Knotenpunkte die Tektonik der gesamten Struktur verändern, indem sie ihre Daten an benachbarte Knotenpunkte distribuieren und so nach und nach verbreiten. Analog dazu sehen wir das kommunikative Verhalten von Personen wie Fuller.
Dieter Buchhart: Können Utopien wie beispielsweise Buckminster Fullers WORLD GAME gesellschaftswirksam werden? Dellbrügge & de Moll: Sicher hat sich in den letzten Jahren ein ausgeprägteres Bewußsein für das „Raumschiff Erde“ entwickelt und individuelle Lebensbedingungen werden in einem globalen Zusammenhang gesehen: Klima, Ernährung, Rohstoffe, Krankheiten, Armut/Reichtum. Erst wenn der Leidensdruck groß genug ist, wird eine radikale Verhaltensänderung initiiert.
Dieter Buchhart: Wie intensiv wurde „Hamburg Ersatz“ von Internet-Usern angenommen? Haben viele User eure Fragen- und Denkstockwerke durchschritten?
Dellbrügge & de Moll: Das bewegt sich im fünfstelligen Bereich – irgendwann haben wir aufgehört, die Statistik zu beobachten. Rund 1.000 Besucher sind aktiv Ersatz-Hamburger geworden und haben ihre Wünsche zu Wohn- und Lebensmodellen beigetragen.
Dieter Buchhart: Was bedeutet Wissenschaftlichkeit im allgemeinen Verständnis von Objektivität und Fiktion und Subjektivität in Projekten wie „Wild Cards“ (2002), welche ihr für die Ausstellung „science+fiction“ – nomen est omen – produziert habt?
Dellbrügge & de Moll: Wissenschaft und Kunst sind ungleiche Spieler im Zugriff auf gesellschaftliche Wirklichkeit. Ihre Arbeitsbedingungen unterscheiden sich grundlegend. Künstler arbeiten selbstbeauftragt und sind keinem Institut und keiner Disziplin verpflichtet. Der Preis dieser Unabhängigkeit ist ein kleiner Wirkungsradius. Künstler bewegen sich in einem Spielfeld, dessen Regeln sie nicht bestimmen. Dennoch sind sie Teil des Spiels und verändern die Regeln durch Gebrauch. Für Wissenschaftler ist die Arbeit in Teams, die Nutzung von Fachwissen und Gerätepools, weltweite Vernetzung von Kompetenzen und hohe Forschungsbudgets paradigmatisch. Wissenschaftliche Entscheidungen sind existentielle Entscheidungen, die bestimmen, wie wir morgen leben werden.
Dieter Buchhart: Könnt ihr das Projekt noch etwas genauer ausführen?
Dellbrügge & de Moll: "Wild Cards" war eine Auftragsarbeit. Eines schönen Tages standen die Kuratoren der Jubiläums-Ausstellung der Volkswagenstiftung „science + fiction“ vor unserer Tür und sagten: „Es geht um Zukunft. Dabei haben wir an Euch gedacht.“ Da Zukunft eine polyvalente Angelegenheit ist, luden wir 10 Wissenschaftler und 10 weitere Künstler ein, Entwürfe, Handlungsanweisungen und Rezepte des Fort-Schritts im Sinne eines Abweichens zu entwickeln. Nicht die Zukunft, die uns mit Hilfe von Wissenschaft und Technik in absehbarer Zeit einholt, interessierte uns, nicht die üblichen aufgeheizten Themen von Gen- bis Nanotechnologie, sondern der utopische Sprung, Katalysatoren, die zum Teil ganz unspektakulär sind, aber Erstaunliches bewirken – Wild Cards eben.
Dieter Buchhart: In „Hamburg Ersatz“ (1997-2000) habt ihr das Netz als Segment des öffentlichen Raumes bezeichnet. In „How Do You Feel“ (2001) wolltet ihr für einen Plattenbau in Berlin-Marzahn die Befindlichkeiten der BewohnerInnen nach außen kommunizieren, indem ihr alle 360 Appartements mit einem Kästchen mit zwei Knöpfen, einer für gute und einer schlechte Stimmung, ausgestatten wolltet. Wie hat das Projekt im Internet "www.howdoyoufeel.de" als globales Stimmungsbarometer funktioniert?
Dellbrügge & de Moll: Sehr einfach. Mit dem ersten Mausklick ist man dabei und generiert so ein globales Stimmungsbild mit. Inzwischen kann man die Stimmungskurven der letzten fünf Jahre verfolgen. Was uns an der Realisierung in Berlin-Marzahn interessierte, war natürlich auch eine Evaluierung der Architektur durch ihre Bewohner.
Dieter Buchhart: Euer Projekt „Classical Chatroom Condition“ (2000) bezeichnet ihr als Intervention im öffentlichen Raum. Wie definiert ihr öffentlichen Raum und Stadtraum?
Dellbrügge & de Moll: Der öffentliche Raum ist, anders als bei der antiken Agora, nicht mehr mit dem Stadtraum identisch. Heute ist der Stadtraum durch Architektur bestimmt, während der öffentliche Raum sich in den medialen Raum ausdehnt. Bei „Classical Chatroom Condition“ übertrugen wir kommunikative Verhaltensweisen aus dem medialen Raum in den Stadtraum.
Dieter Buchhart: In „Morse by Horse“ (2006) scheint ihr auf den ersten Blick ein klassisches Reiterstandbild in Form einer Spielzeugfigur zu ironisieren. Wieso habt ihr euch diesem kunsthistorischen Thema angenommen? Was wollt ihr buchstäblich kommunizieren?
Dellbrügge & de Moll: „Morse by Horse“ reflektiert das Repräsentationsbedürfnis der Auftragsgeber für Kunst am Bau. Inhaltlich setzt es sich mit seinem Standort auseinander, dem Firmensitz eines IT-Unternehmens. Im Zuge unserer Recherchen zur Geschichte der Datenübertragung stießen wir auf eine Episode, welche die Gleichzeitigkeit der analogen und elektronischen bzw. digitalen Welt verdeutlicht: Als in Australien im 19. Jahrhundert dieerste elektromagnetische Telegrafenlinie von Küste zu Küste gebaut wurde, überbrückten berittene Boten das letzte Stück durch unwegsames Gelände, bis das Ost- und Westkabel miteinander verbunden waren. »Morse by horse!« lautete die Schlagzeile. Der berittene Bote schloss die Lücke im Prozess der Technologisierung. Dafür steht in Frankfurt ein auf sechs Meter Höhe skaliertes Drückpferdchen.
Als weiteres Element kommen zwei Signalleuchten ins Spiel, die auf zehn Meter hohen Masten den Publikumsverkehr überragen. Die Leuchten kommunizieren miteinander per Lichtsignal im Morsecode. Das Morsealphabet mit seiner Übersetzung in Klartext erscheint eingraviert auf den Edelstahlscheiben, in denen die beiden Signalleuchten fußen. Der interessierte Betrachter könnte jederzeit den Morsecode erlernen und die Botschaften der Lampen dechiffrieren. Zudem wäre es kurzweilig, denn sie erzählen sich Witze. Der Witz ist eine elementare Form von Kommunikation. Er spielt mit dem Unvorhergesehenen, durchbricht das Raster des Gewohnten und setzt auf Überraschung. Der Witz funktioniert im Dialog. Erst die Interpretationsleistung des Gegenübers aktiviert seine Komik. Lachen ist eine Reaktion auf eine Versteifung des Lebendigen und hat letztlich eine soziale Funktion. Es mag Pointen geben, die man nicht versteht. Wenn aber der Groschen fällt, ist kaum etwas so verbindend wie das gemeinsame Lachen.
Dieter Buchhart: Ist das exemplarische Kommunizieren und Fragen die Kunstform der Zukunft?
Dellbrügge & de Moll: Hier möchten wir unseren alten Freund Frank Barth zitieren: „So sie nicht als Behauptungssubstantiv ihr Wesen führt, dessen ihm zugrunde liegende Vorstellung mit dem Verlust des Wortes aus der Sprache endlich mitverschwände, ist Kunst vor allem lustvolle Stimulation des Gehirns durch kristalline Kälte.“